Bei den Schotten am Steine
Einst schritt ein armer Pilger die Teinfaltstraße, damals noch auf dem Steinfelde, entlang, den Hut tief übers Gesicht gezogen, sein ungekämmtes langes Haar und seine eingefallenen Wangen ließen einen schweren Leidensgang vermuten. Erschöpft ließ er sich vor dem Schottenmünster auf einem Stein nieder.
Zur gleichen Zeit spielte am Neuen Markt, dem damaligen alten Kohlenmarkt, ein Harfner aus Pisa traurige Lieder über den Tod von Albrecht I., der von seinem habgierigen Neffen und Mündel Johann von Österreich ermordet worden war. Johann „Parricida“ wollte das väterliche Erbe des Rudolf II., das Herzogtum Schwaben, übernehmen, das der Vormund ihm nicht überlassen wollte. So lauerte er ihm mit anderen Mitverschwörern am 1. Mai 1308 am Ufer des Flusses Reuß im Aargau auf und streckte den Fürsten mit einem Schwertschlag nieder, als dieser den Fluss überqueren wollte.
Indessen stöhnte der Pilger vor dem Schottenkloster vor sich hin: "Einmal noch, ehe ich die deutsche Erde verlasse, muss ich in deinem Innern mich ergehen, freundliche Wiege meiner Kinderjahre! Deine Laufgräben sind Liebe und Treue. Deine Mauern der Gehorsam. In deinen Straßen bewegen sich Fleiß und Fröhlichkeit. Darf die Neue es wagen, deine Tore zu betreten, die nur der Bescheidenheit, der Demut, der Geduld und den Künsten des Friedens geöffnet sind?"
Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, öffnete ein Herold das Tor zur Freyung und verkündete, dass Friedrich der Schöne, Sohn von Albrecht I., den Eid zur Herrschaft ablegen wolle. Das Volk jubelte, der Pilger schreckte aber erschüttert vom Stein hoch und wäre fast wieder zusammengesackt, hätte ihn nicht ein vorbeilaufender Knappe gerade noch aufgefangen. Als der Knappe den Hut des Pilgers lüftete, zuckte er jedoch zusammen, er erkannte das Gesicht des Mörders, Johann. Rasch lief er dem Stadttor zu und ließ den bewusstlosen Pilger am Stein liegen.
In der Stadt verbreitete sich rasch, das Albrechts Mörder zugegen war, doch als die Menge zu dem Kloster kam, war der Mönch verschwunden. Da rief einer aus der Menschenmenge: "Nicht hier, auf dem Kornmarkte werdet ihr ihn finden - als Harfner verkleidet!" Die Menge wogte nun zurück zum Neuen Markt, doch auch dort: der Harfner war verschwunden.
Da beide Männer nicht mehr auftauchten, meinten die Wiener, man habe sie absichtlich entkommen lassen. Aber lange galt noch: Wer etwas verloren hatte, dem wurde spöttisch zugerufen, er solle doch bei den Schotten am Steine suchen.[1]
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Quellen
- ↑ J. Gebhart: Österreichisches Sagenbuch, Lauffer & Stolp, 1862, Wien. S. 28-29