Sagen und Legenden
Das schreckliche Gesicht im Rathaus
Relevante Orte: Hof- und Fassadenfront des Altes Rathaus an der Wipplingerstraße 6-8; Fensterzone des ehemaligen Rats-/Gerichtssaales
Wenn ein Gesicht in der Scheibe stand
Man erzählte im Viertel um den Hof, im Alten Rathaus zeige sich zuweilen ein verzerrtes Antlitz in einer Fensterscheibe des alten Gerichtssaales. Es war, als drücke sich eine Stirn gegen das Glas, mit weit aufgerissenen Augen und einem Mund, der keinen Laut fand. Wer es sah, meinte, ein unschuldig Verurteilter fordere sein Recht.
Ein alter Schreiber gab zu Protokoll, er habe in einer Winternacht, als der Mond stand, die Fratze gesehen und den Luftzug gespürt, obwohl alle Fenster verriegelt waren. Am nächsten Tag fand man im Archiv einen alten, falsch geführten Eintrag – eine Zahl, die ein Leben gekostet haben mochte. Man strich die Stelle rot an und stiftete eine Messe. Danach blieb die Scheibe lange still.
Andere schworen, das Gesicht sei das des Gerichtsdieners, der einst heimlich ein Protokoll geändert habe und es nie bekannte. Wieder andere sagten, es sei nur der Schatten eines Maskaronkopfes über dem Portal, den die mondgeblähte Scheibe verzerrte. Doch wenn es still ist im Hof und der Stein den Frost hält, schaut man unwillkürlich hinauf: ob die Scheibe heute ruhig bleibt.
Ort: Fenster- und Hofzone des
Alten Rathauses; Blickbezug zum ehemaligen Rats-/Gerichtssaal
Jesus macht ein schlechtes Gewissen
Es war im Jahr 1464, als sich im Alten Rathaus vier Ratsherren trafen, um einen Beschluss zu verfassen, Nach vielen Diskussionen hatten sie sich geeinigt und wollten gerade durch ihre Unterschriften das Beschlossene zum Gesetz erheben, als ihnen im Ratssaal das drohende Antlitz von Jesus erschien. Das Haupt Jesu war von einem Heiligenschein umgeben und hatte etwas Bedrohliches.
Bestürzt und zitternd ließen die Ratsherren das Schriftstück liegen - ihr Gewissen verweigerte ihnen eine Unterschrift.
Im Volk sprach sich das Gegebene bald herum und der Verdacht lag nahe, dass die Vier etwas im Schilde geführt hatten, das nicht Rechtens gewesen wäre. Zur Erinnerung an diesen Vorfall, und damit es den Wienern für immer im Gedächtnis bliebe, ließ man im Ratssaal das Bild von Jesus aufhängen. [1]
Varianten der Erzählung:
Erscheinung am Jahrestag eines Urteils · ein einziger Schlag aus der Turmuhr geht voraus · das Gesicht zeigt sich nur im Spiegelbild einer Wasserpfütze · skeptische Deutung: Maskaron/Apotropäon, unruhiges Mundglas, Lichtreflexe.
Historischer Hintergrund
Zur Einordnung: Das Alte Rathaus war Sitz von Rat, Gericht und Stadtverwaltung; Hof- und Portalzonen tragen barocke Maskarons und Groteskenköpfe, die als apotropäische Gesichter gelten. Mundgeblasene Fensterscheiben können Gesichter und Kanten stark verzerren; nächtliche Spiegelungen, Mondlicht und Laternenwürfe lieferten Stoff für Spukberichte. Die Wiener Sage moralisiert darüber: Schrift und Urteil sollen sauber sein – sonst blickt einen das Gewissen aus dem Fenster an.[2]
Quellen
- ↑ Gustav Gugitz: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, Lauffer & Stolp, 1952, Wien, Nr. 58, S. 77, www.sagen.at
- ↑ Wiener Sagensammlungen zum Alten Rathaus (Fenster-/Maskaronlegenden); Bauzier und Glasdeutung.