Stephansdom: Die Legende der Totenmesse

Aus City ABC

Stephansdom: Die Legende der Totenmesse Relevante Orte: Stephansdom
Österreich, Wien. Der Stephansdom.jpg

Spät in der Weihnachtsnacht des Jahres 1363 sitzt der alte Pfarrherr von St. Stephan ganz alleine in der warmen Stube, trinkt noch ein Glas Messwein und liest in einem uralten Buch, das er eben in der Bibliothek entdeckt hat. Die Buchstaben sind fast verblasst, das Papier ist stark angegriffen und die Bindung löst sich auf. Der alte Priester liebt gerade solche Bücher ganz besonders.

"Den du erblickst im Gotteshaus
im weißen Totenhemd
in Christnachts langen Stunden,
dem löscht Gott das Leben aus,
bevor ein Jahr überwunden."

Der Pfarrer lacht. So lange übt er nun schon sein Amt aus, war auch schon oft genug am Weihnachtsabend in der Kirche, er hat jedoch noch nie jemanden im Totenhemd herumgeistern sehen. Kopfschüttelnd liegt er das Buch beiseite und nimmt sich ein anderes - doch der Satz geht ihm eine ganze Weile lang nicht aus dem Kopf.

Später tritt er ans Fenster. Draußen schneit es dicke Flocken, so dicht, dass er gar nicht richtig zur Kirche hinübersieht. Der alte Mann erschrickt! Er glaubt, einen Lichtschein im Gotteshaus bemerkt zu haben. Er sieht genauer hin. Ja, da ist er wieder!

"Großer Gott", murmelt er. "Einbrecher! Und das in dieser Nacht, wo sie alle daheim sind und feiern!"

Der Pfarrherr ist ein pflichtbewusster Mann. Schnell schlüpft er in seinen warmen Mantel, nimmt die großen Schlüssel vom Haken und bewaffnet sich - für alle Fälle - mit einem silbernen Kerzenleuchter. Dann stapft er hinaus in die Dunkelheit über den verschneiten Friedhof zum kleinen Seiteneingang. Bevor er den Schlüssel im Schloss umdreht, spricht er noch schnell ein kurzes Gebet, holt dann tief Luft und betritt das Gotteshaus.

Da ist tatsächlich Licht. Doch es sind keine Einbrecher. Hier wird eine Messe gefeiert. Ein kalter Schauer jagt dem Pfarrer den Rücken hinauf, als sein Blick über die Menschenmenge streift, die sich zum Gebet versammelt hat. Der Dom ist zum Bersten gefüllt. Sogar im Chor haben die Menschen Platz genommen.

Als er die Betenden genauer in Augenschein nimmt, erkennt er manch bekanntes Gesicht. Da ist der Schuster Hans und dort der Bäckermeister. Er entdeckt den alten Ratsherrn und seine Frau. Auch die Froni ist da - mein Gott, die ist ja in guter Hoffnung! Und den kleinen Fanzi sieht er, Seite an Seite mit seiner großen Schwester. Weiter streift sein Blick über die Gemeinde - und alle tragen sie weiße Totenhemden.

Vorne steht der Priester zum Altar gewandt. Als er sich umwendet, durchfährt es den alten Pfarrer abermals. Der silberne Kerzenleuchter entgleitet seiner Hand. Er sinkt auf die Knie und betet - denn er hat sich selbst gesehen!

Plötzlich schlägt die Turmuhr eins. Der unheimliche Spuk verschwindet.

Von allen Kräften verlassen, wankt der Pfarrherr zurück in seine Stube. Nach einem stärkenden Glas Wein, das seinen Kreislauf wieder in Schwung bringt, holt er sich sein Tagebuch und schreibt hinein, was er eben erlebt hat.

Ein Jahr später. 1364. Wieder ist Weihnachtsabend. In diesem Jahr wird nicht in Wien gefeiert, denn die Pest geht um und hat schon viele aus dem Leben gerissen. Den Schuster, den Bäckersohn, den alten Ratsherrn samt Familie und all die anderen, die der Pfarrherr im Vorjahr im Dom gesehen hat. Auch den Pfarrherrn selbst.



Gehe weiter zu Stephansdom: Die Legende der Zügenglocke


Gehe zurück zu Stephansdom

Quellen