1927: Der Brand des Justizpalastes
Brand des Justizpalastes
Der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 (auch Justizpalastbrand) war ein eskalierter Protesttag im Zentrum Wiens, der aus Empörung über ein Geschworenengerichtsurteil hervorging und in der Erstürmung sowie Brandlegung im Justizpalast am Schmerlingplatz mündete. Der Tag endete mit massiven Polizeieinsätzen und Schusswaffengebrauch; die Zahl der Todesopfer wird in zentralen Darstellungen meist mit 89 angegeben, dazu kamen weit über 1.000 Verletzte. [1][2]
Der Brand vernichtete im Gebäude unter anderem große Teile der Räumlichkeiten des Obersten Gerichtshofs und zerstörte die damalige Amtsbücherei sowie das untergebrachte Grundbuch für die meisten Wiener Bezirke. Die betroffenen Dienststellen wurden bis zur Wiederherstellung des Justizpalastes zu Beginn der 1930er-Jahre provisorisch an anderen Wiener Adressen untergebracht. [3]
Kurzüberblick
| Wann? | Wer? | Worum geht's? |
|---|---|---|
| 15. Juli 1927 | Demonstrierende aus Arbeiterbezirken gegen die Poliizei | Der Justizpalastbrand steht am Ende einer Kette von Gewalt, Polarisierung und Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Unmittelbarer Auslöser war ein Freispruch in einem Prozess, den viele Zeitgenossen als Symbol einer Klassenjustiz wahrnahmen. Am 15. Juli 1927 zogen Demonstrierende aus Arbeiterbezirken in die Innenstadt; im Zuge der Dynamik wurden sie von Polizeikräften verdrängt, sammelten sich vor dem Justizpalast und drangen schließlich in das Gebäude ein. [4]
Zu Mittag stand der Justizpalast in Flammen, wobei in zeitgeschichtlichen Darstellungen betont wird, dass die Feuerwehr mit ihren Fahrzeugen kaum durch die Menschenmenge kam. Parallel eskalierten die Zusammenstöße zwischen Einsatzkräften und Protestierenden. Polizeipräsident Johannes Schober gab schließlich den Schießbefehl; in der Bilanz werden häufig 84 tote Demonstrierende und fünf tote Sicherheitskräfte genannt, außerdem weit über 1.000 Verletzte. [5][6] |
Hintergrund
Der Weg zum 15. Juli führte über Schattendorf (Burgenland). Dort waren am 30. Jänner 1927 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwei Unbeteiligte getötet worden, ein Kriegsinvalide und ein Kind. Der Prozess gegen die Todesschützen wurde in Wien geführt. [7]
Der Freispruch wurde am 14. Juli 1927 verkündet, weil die für eine Verurteilung notwendige Zweidrittelmehrheit der Geschworenen knapp verfehlt wurde. Gerade dieser juristische Mechanismus – ein knappes Ergebnis, das dennoch zwingend zum Freispruch führte – verstärkte die Wahrnehmung, das Rechtssystem sei gegenüber politischer Gewalt von rechts blind oder nachsichtig. [8]
Mini-Zeitleiste
| Datum | Ereignis (Wien-Fokus) |
|---|---|
| 30. Jänner 1927 | Schüsse von Schattendorf: Zwei Unbeteiligte werden getötet; der spätere Prozess wird in Wien geführt. [9] |
| 14. Juli 1927 | Freispruch im Wiener Geschworenengerichtsprozess; die notwendige Zweidrittelmehrheit für einen Schuldspruch wird knapp verfehlt. [10] |
| 15. Juli 1927 | Massendemonstration und Eskalation am Schmerlingplatz: Erstürmung und Brandlegung im Justizpalast, Polizeischüsse, zahlreiche Tote und Verletzte. [11][12] |
| Beginn der 1930er-Jahre | Wiederherstellung des Justizpalastes; bis dahin sind betroffene Dienststellen provisorisch in Wien 1, Herrengasse 17 und Landhausgasse 4 untergebracht. [13] |
Schäden und Folgen für Wien
Die unmittelbaren Schäden waren nicht nur baulich, sondern auch dokumentarisch. Laut Darstellung des Obersten Gerichtshofs wurden große Teile der Räumlichkeiten vernichtet, die damalige Amtsbücherei (eine der größten juristischen Bibliotheken Europas) zerstört und zahlreiche unersetzliche Dokumente verloren, darunter Ministerratsprotokolle aus den Jahren 1867 bis 1918. Zusätzlich ging das im Gebäude untergebrachte Grundbuch für die meisten Wiener Bezirke vollständig verloren. [14]
In der politischen Geschichte Wiens gilt der 15. Juli 1927 als Ereignis, das die Polarisierung weiter verschärfte und in späteren Rückblicken als Vorbote einer noch tieferen Eskalation in den 1930er-Jahren beschrieben wird. [15]
Erinnerungskultur
Der Justizpalast ist bis heute ein zentraler Justizstandort Wiens. Zur bleibenden Erinnerung wurde am 11. Juli 2007 in der Aula des Justizpalastes eine Gedenktafel enthüllt, die das Ereignis zugleich als Mahnung im demokratischen Rechtsstaat markiert. [16]
Mythentrennung
| Behauptung | Was stimmt? |
|---|---|
| „Der Freispruch war ein eindeutiges „Durchwinken“ der Geschworenen.“ | In zentralen Darstellungen wird der Mechanismus ausdrücklich als knappes, aber regelgebundenes Ergebnis beschrieben: Sieben Geschworene stimmten für schuldig, doch die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde um eine Stimme verfehlt, weshalb freizusprechen war. [17] |
| „Die Eskalation war vollständig geplant und von der Parteiführung gesteuert“ | Zeitgeschichtliche Einordnungen betonen vielmehr den Charakter einer spontanen Massendemonstration, die sich der Kontrolle entzog; sogar führende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten konnten die Menge nicht beruhigen. [18][19] |
| Es gab nur Opfer unter den Demonstrierenden. | In den meistzitierten Opferzahlen werden neben den getöteten Demonstrierenden auch fünf getötete Sicherheitskräfte genannt. In einzelnen Erinnerungs- und Gedenktexten variieren Detailangaben zur Zahl der getöteten Exekutivbeamten, doch die Nennung von Exekutivopfern ist durch mehrere Darstellungen gedeckt. [20][21][22] |
| "Der Justizpalast ging dauerhaft verloren. | Das Gebäude wurde schwer beschädigt, aber wiederhergestellt; die betroffenen Justizdienststellen arbeiteten bis zur Wiederherstellung in provisorischen Quartieren in der Inneren Stadt weiter. [23] |
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Quellen
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand (u. a. Urteil vom 14. Juli 1927, Brand am 15. Juli 1927, 84 Demonstrierende und fünf Sicherheitskräfte tot, weit über 1.000 Verletzte)
- ↑ Parlament Österreich: Politik der Straße – Spontane Revolte: Justizpalastbrand 1927 (u. a. Ablauf, 89 Tote, mehr als 600 schwer Verletzte)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Zerstörung von Räumen, Bibliothek, Ministerratsprotokollen 1867–1918, Grundbuch; provisorische Unterbringung; Wiederherstellung zu Beginn der 1930er-Jahre)
- ↑ Parlament Österreich: Politik der Straße – Spontane Revolte: Justizpalastbrand 1927 (Demonstrationszug, Polizeiverdrängung, Eskalation vor dem Justizpalast)
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand (Schießbefehl, Opferzahlen, Feuerwehr kommt nicht durch),
- ↑ ORF Wien: Justizpalast-Brand jährt sich zum 90. Mal (84 Demonstrierende und fünf Polizisten tot, mehr als 1.000 Verletzte)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Schattendorf 30.1.1927, Prozess in Wien, Brand 15.7.1927)
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand (Zweidrittelmehrheit verfehlt; Freispruch 14. Juli 1927)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand
- ↑ Parlament Österreich: Politik der Straße – Spontane Revolte: Justizpalastbrand 1927
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Provisorien; Wiederherstellung)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Bibliothek, Ministerratsprotokolle, Grundbuch)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Rückblick und Einordnung als Vorbote späterer Ereignisse)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Gedenktafel 11.7.2007)
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand (Zweidrittelmehrheit verfehlt)
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand (spontane Massendemonstration; Führung konnte nicht beruhigen)
- ↑ Parlament Österreich: Politik der Straße – Spontane Revolte: Justizpalastbrand 1927 (Revolte/Eskalation)
- ↑ Haus der Geschichte Österreich (hdgö): 1927: Justizpalastbrand (fünf Sicherheitskräfte)
- ↑ ORF Wien: Justizpalast-Brand jährt sich zum 90. Mal (fünf Polizisten)
- ↑ Oberlandesgericht Wien: Der 15. Juli 1927 (u. a. 89 Todesopfer; Hinweis auf vier Polizisten)
- ↑ Oberster Gerichtshof (OGH): Der Brand von 1927 (Wiederherstellung zu Beginn der 1930er-Jahre; Provisorien)