Stephansdom: Der Kegler vom Stephansturm
Einst saß am Nordturm ein Türmer, seine Arbeit war meist ziemlich langweilig. Er saß in seiner kleinen Turmstube, und hatte nur zur Aufgabe, die Häuser der Stadt im Auge zu behalten. Wenn keine Feuer zu sehen waren, hatte er wenig zu tun, und so richtete er sich in der kleinen Stube eine Kegelbahn ein - und weil die Bahn kurz ist, muss der Kegler mit dem Rücken zu den Kegeln die Kugel durch seine Beine schieben.
Ein guter Kegler der Stadt war Meister Kunrat, der Schindelmacher, er traf immer alle Neune. Leider war er auch ein wüster Gesell, ein Saufbold und Herumtreiber. Kunrat kegelte gerne im Gasthaus "Zum steinernen Kleeblatt", und an jenem Abend, von dem berichtet wird, wurde das Gröhlen und Prahlen von Kunrat dem Wirten zu viel, er warf ihn kurzerhand raus. Kunrat wollte aber noch nicht nach Hause, und so ging er zum Dom, um dem Türmer noch einen Besuch abzustatten und mit ihm weiter zu kegeln. Kaum hatte Kunrat die mühsamen Treppen zum Turm erklommen, sah er, dass ein Anderer den Platz des Türmers eingenommen hatte.
"Zum Teufel, wo is'n der Franz?" keucht er. "Der ist nicht hier. Ich vertrete ihn", antwortet der Fremde aus dem dunklen Eck des Stübchens. "Wurscht", meint der Kunrat. "I geh a Runde kegeln. I g'winn immer! Wos is? Spü' mit! Oder traust di net?" "Aber gerne spiel ich mit", antwortet der Fremde freundlich. "Ich gewinne nämlich auch immer!"
Als sich der Fremde aus seinem Sessel erhebt und ins Kerzenlicht tritt, sieht Kunrat, dass der Fremde ganz hager ist und einen bodenlangen Umhang trägt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ganz wohl ist ihm nun nicht mehr, denn er ahnt, wen er da zum Kampf herausgefordert hat, aber Rückzieher will er auch keinen machen.
Also nimmt der meister Kunrat die Kugel, begibt sich in Position und wirft sie zwischen den Beinen über die Bahn. "Alle Neune!" schreit er. "Teifi, des muß't ma erst amoi nachmach'n!" Flux stellte er die Kegel wieder auf, ließ dabei jedoch eine unter seinem Rock verschwinden und warf sie in einem scheinbar unbeobachteten Moment aus dem Fenster.
"So nicht, Bürschchen!" dröhnte da eine unheimliche Stimme hinter ihm. Der Kapuzenmann hatte sich aufgerichtet, wuchs und wuchs, und breitete seinen Umhang aus. Schaudernd erblickte Kunrat das blanke Knochengerüst. "Ich bin der Tod", hallte es durch das Stübchen. "Und ich gewinne immer - auch dort, wo nur acht sind, treffe ich alle Neune!"
Die knöcherne Hand griff zur Kugel, schmetterte sie in die Kegel, so dass die acht mit heftigem Gerassel zusammenfielen. Als neunter sank Meister Kunrat zu Boden.
Am nächsten Morgen fand der Türmer den Mann tot zwischen den Kegeln liegen. Von da an beteten die Türmer vor jeder Kegelrunde ein Vaterunser für den unseligen Kunrat.
Wundervoll erzählt von Michael Köhlmeier: https://www.youtube.com/watch?v=yoNaGDM2jAk
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