Die flüsternden Bücher

Aus City ABC

Sagen und Legenden
Die flüsternden Bücher

1., Innere Stadt Prunksaal Josefsplatz Hofburg

Relevante Orte: Prunksaal der Hofbibliothek am Josefsplatz; Mittelkuppel, Galerien und Buchkästen; Verbindung zur Hofburg


Wenn Seiten atmen

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Buchkästen im Prunksaal der ONB

Man erzählt, in windstillen Nächten, wenn der Josefsplatz leer ist und die Wache in den Höfen der Hofburg die Schritte zählt, sei im Prunksaal ein Flüstern zu hören. Nicht laut, eher wie ein Atem zwischen den Buchrücken: Silben, Katalognummern, ein Name, der längst keiner mehr ruft. Ein Aufseher schwor, er habe im Halbdunkel die Galerie umrundet, da klappte irgendwo eine Seite leise um, als wolle ein Band sich selbst aufschlagen.

Auf dem Pult der Mittelkuppel lag am Morgen ein Buch, das niemand ausgehoben hatte – aufgeschlagen auf einem Blatt mit einer Randnotiz, fein wie Atem. Ein Staubkorn schwebte im Licht, als halte jemand den Finger an die Zeile. Die Alten meinten: Wenn die Bücher flüstern, erinnert der Saal daran, dass Worte weiterklingen, wenn der Mund längst schweigt.

Skeptische sagen, es seien nur die Hölzer der Kästen, die arbeiten, und ein Luftzug aus den Gängen; doch wer spät an der Eingangstür steht und das Ohr an den Spalt legt, hört manchmal ein hauchfeines Rascheln – wie eine Stimme, die nur lesen will.

Ort: Mittelkuppel, Galerien, Buchkästen; Hörbezug zum Josefsplatz und zur Hofburg

Varianten der Erzählung: Flüstern nur bei Sturm · ein Band schlägt sich stets auf derselben Seite auf · lateinische Randglossen klingen wie Gebet · skeptische Deutung: Temperatur, Holzspannung, Lüftung, Kuppel-Echo.

Historischer Hintergrund

Zur Einordnung: Der Prunksaal der ehemaligen Hofbibliothek entstand im 18. Jahrhundert nach Plänen der Familie Fischer von Erlach. Hohe Kuppelräume, Galerien und hölzerne Buchkästen reagieren sensibel auf Temperatur- und Luftdruckwechsel; kleinste Bewegungen erzeugen hörbares Rascheln und Knacken. Die Sage verdichtet Akustik, Bibliotheksbrauch und Hofnähe zu einer Nachtgeschichte über die Hartnäckigkeit der Worte. [1]


Quellen

  1. Stadttopographie Josefsplatz/Hofbibliothek; Bau- und Raumbeschreibung Prunksaal; Wiener Sagenmotive zu »sprechenden« Häusern und Dingen.