Zeitungswesen in Wien
Zeitungswesen in Wien, Geschichte
Von der Nachricht zur Zeitung
Historisch meinte „Zeitung“ zunächst die Nachricht selbst und nicht das gedruckte Produkt. In der frühen Neuzeit kursierten Neuigkeiten als mündliche Berichte, als Briefe und als Abschriften, lange bevor die periodische Zeitung als regelmäßig erscheinendes Druckwerk stabil wurde. Erst mit dem Ausbau von Post- und Handelsnetzen, mit einem verlässlicheren Nachrichtenfluss und mit der Möglichkeit, Inhalte schneller zu vervielfältigen, verschob sich die Bedeutung zunehmend auf den Träger: die Zeitung als öffentlich vertriebenes Medium, das in dichter Folge „aus aller Welt“ berichtet.[3]
Für Wien war diese Verschiebung mehr als eine sprachliche Nuance. Als Residenz- und Verwaltungszentrum der Habsburgermonarchie verdichteten sich hier diplomatische, militärische und ökonomische Informationsströme. Damit entstand früh eine Nachfrage nach bündelbaren, wiederkehrenden Nachrichtenzusammenstellungen – zunächst für Eliten, später für breitere, bürgerliche Leseschichten
Handschriftliche Nachrichten und frühe Drucke
Bevor es stabile periodische Zeitungen gab, zirkulierten „geschriebene Zeitungen“ und handschriftliche Avisen, die Nachrichten subjektiv auswählten und in Netzwerken weiterreichten. Solche Formen waren nicht nur Vorläufer der gedruckten Zeitung, sondern ein eigenes Kommunikationsmedium mit sozialer Funktion: Wer Informationen erhielt, signalisierte Zugehörigkeit, Nähe zu Macht oder Teilhabe am Handel. Die gedruckten Einblattdrucke und Flugschriften erweiterten diese Logik um den Verkauf an ein anonymes Publikum. Auch in Wien sind solche Übergangsformen im Quellenbestand (Zeitungen, Flugschriften, amtliche Drucke) besonders gut über Bibliotheken und Digitalisate zu verfolgen.
Die frühe Presse in Wien entwickelte sich in einem Umfeld, in dem Druckerlaubnis, Zensur und staatliche Steuerung maßgebliche Rahmenbedingungen bildeten. Das erklärt, weshalb frühe Zeitungen und periodische Druckwerke häufig eng an behördliche Informations- und Kontrollregime gebunden waren und warum sich publizistische Freiräume erst schrittweise erweiterten. Für die historische Recherche sind frühe Jahrgänge und Titel besonders gut über Bibliotheksbestände und Digitalisate zugänglich, wodurch Wien als Archiv- und Sammlungsort eine zusätzliche Bedeutung erhält.[4]
1703: Wiennerisches Diarium und die Institutionalisierung
Einen entscheidenden Fixpunkt bildet 1703: Am 8. August 1703 erschien erstmals das Wiennerische Diarium, das spätere Kernstück der Wiener Zeitung. Die Österreichische Nationalbibliothek dokumentiert den Beginn ausdrücklich mit dem Titelblatt der ersten Ausgabe und verweist auf den nahezu geschlossenen Bestand im digitalen Zeitungslesesaal ANNO. Damit wird eine frühe Phase des Wiener Zeitungswesens nicht nur historisch greifbar, sondern auch praktisch recherchierbar.[5]
Die Wiener Zeitung blieb über Jahrhunderte ein Leitmedium. In der Forschung wird auch die staatliche Übernahme im 19. Jahrhundert als markante Zäsur genannt, weil sie das Blatt institutionell an den Staat band und zugleich seine Rolle als Amts- und Informationsmedium verstärkte.[6]
Kaffeehäuser als urbane Leseinfrastruktur
Zeitungen wurden in Wien früh Teil einer spezifischen urbanen Lesekultur. Besonders wirkmächtig war das Kaffeehaus als „öffentliche Privatheit“: ein Ort, an dem man Zeitungen lesen, diskutieren, vergleichen und weiterreichen konnte. Ein oft zitierter Innovationspunkt liegt im Jahr 1720, als das Kramersche Kaffeehaus am Graben als erstes Kaffeehaus kostenlos Zeitungen auslegte. Damit wurde Zeitungslektüre – zumindest im Kaffeehaus – aus dem engen Kreis zahlungsfähiger Einzelabonnenten herausgelöst und in einen halböffentlichen Raum überführt, der Information mit Geselligkeit verband.[7]
Für die Wiener Pressegeschichte ist das Kaffeehaus deshalb zentral, weil es die Zeitung nicht nur verbreitete, sondern auch ihre Wirkung formte: Redaktionen schrieben in eine Stadt hinein, in der Zeitungen sichtbar auslagen und unmittelbar kommentiert wurden.
1848–1914: Liberalisierung, Massenpresse, Parteipresse
Die Revolution von 1848 markiert europaweit einen Einschnitt, weil politische Mobilisierung und publizistische Dynamik sich gegenseitig beschleunigten. In Wien lässt sich diese Phase über die Entstehung neuer Titel, über politische Blattformen und über die Professionalisierung der Redaktionstätigkeit nachvollziehen. Aus der liberalen Presseentwicklung heraus gewann die Zeitung ihre moderne Doppelrolle: Nachrichtenmedium und politischer Akteur.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht in Wien eine hochentwickelte Presselandschaft, die die Ringstraßenzeit nicht nur begleitete, sondern mitprägte. Ein Schlüsselbeispiel ist die Neue Freie Presse, deren erste Ausgabe am 1. September 1864 erschien und die zum internationalen Referenzblatt des bürgerlich-liberalen Milieus wurde.[8]
Parallel dazu wuchs die Parteipresse als städtische Infrastruktur politischer Organisation. Die 1889 in Wien gegründete Arbeiter-Zeitung wird als Zentralorgan der Sozialdemokratie beschrieben und steht exemplarisch dafür, wie Zeitung, Vereinshaus, Druckerei und Verteilnetz ein politisches Milieu stabilisierten.[9]
1918–1945: Umbrüche, Kontrolle, Brüche
Mit dem Ende der Monarchie veränderten sich Markt, Zielgruppen und politische Rahmenbedingungen; Zeitungen mussten sich in einer neuen Republik positionieren. Gleichzeitig zeigen die 1930er-Jahre, wie verletzlich Pressefreiheit ist, wenn politische Systeme in autoritäre Steuerung kippen. Für Wien ist die Zäsur 1934 besonders deutlich am Verbot der Arbeiter-Zeitung ablesbar, das im Zusammenhang mit der Ausschaltung der Sozialdemokratie steht.[10]
Die Jahre 1938 bis 1945 führten zu umfassender Gleichschaltung, Umorganisation und in vielen Fällen zur Einstellung oder Übernahme von Titeln. In der Pressegeschichte wird diese Phase weniger über publizistische Vielfalt als über Kontrolle, Propaganda und den Abbruch institutioneller Kontinuitäten erzählt – ein Bruch, der nach 1945 nicht einfach „repariert“, sondern neu geordnet werden musste.
1945–1980er: Neuaufbau und Konsolidierung
Nach 1945 entstand in Wien eine neue Zeitungslandschaft, in der Lizenzen, knappe Ressourcen (Papier, Druckkapazitäten) und Besatzungsregime den Rahmen setzten. Für die Nachkriegsgeschichte ist der Wiener KURIER ein markantes Beispiel: Der Kurier hält fest, dass der Wiener KURIER am 27. August 1945 startete und von der US-Besatzungsmacht herausgegeben wurde. Damit wird sichtbar, wie stark die frühe Nachkriegspresse in Wien an politische und infrastrukturelle Bedingungen gebunden war.[11]
Ein weiterer Wiener Fixpunkt ist der Neustart der Neuen Kronen Zeitung im April 1959, der in der eigenen Chronikdarstellung als Beginn eines neuen Massenblatts beschrieben wird. In der Stadtgeschichte ist damit nicht nur ein Titel verbunden, sondern ein neuer Reichweitenmodus: die konsequent auf breite Alltagsleserschaften ausgerichtete Boulevardlogik.[12]
In den 1980er-Jahren wird die Konsolidierung auch organisatorisch sichtbar. Mediaprint beschreibt sich als 1988 gegründeten Zusammenschluss der Verlage von Kronen Zeitung und Kurier und nennt Anzeigen, Druck und Vertrieb als zentrale, gebündelte zeitungswirtschaftliche Funktionen. Das verweist auf einen Strukturwandel, bei dem publizistische Marken bestehen bleiben, während Produktions- und Vermarktungssysteme zunehmend gemeinsam organisiert werden.[13]
Seit den 1990er-Jahren: Digitalisierung und Strukturwandel
Mit dem Internet verschiebt sich die Zeitung von einem tagesrhythmischen Printprodukt zu einem permanenten Nachrichtenfluss, der ökonomisch anders finanziert und technisch anders produziert wird. Die klassische Zeitung bleibt zwar als Marke, als redaktionelle Kompetenz und als Bezahlmodell relevant, doch die Reichweitenlogik verlagert sich in digitale Räume. Die allgemeine Zeitungsgeschichte spricht hier von sinkenden Printauflagen und wachsenden Onlinezugriffen – für Wien bedeutet das, dass Newsrooms, Studios, CMS-Workflows und Social-Media-Distribution an die Stelle vieler klassischer „Druck- und Vertriebsselbstverständlichkeiten“ treten.[14]
Ein symbolisch besonders aufgeladener Wiener Einschnitt war 2023 das Ende der Wiener Zeitung als gedruckte Tageszeitung. In der Berichterstattung wird der parlamentarische Beschluss als „Ende … als Tageszeitung“ in der bisherigen Form beschrieben; gleichzeitig entstand ein digitales Nachfolgeangebot. Die Wikipedia-Darstellung nennt als letzte gedruckte Ausgabe den 30. Juni 2023 und hält fest, dass seit Juli 2023 ein digitales Nachfolgeprodukt erscheint.[15][16] Mit der Umstellung der Pflichtveröffentlichungen auf eine elektronische Plattform (EVI) wurde zudem ein klassisches Einnahmensegment des Amtsblatts aus dem Printkontext herausgelöst, was den Strukturbruch zusätzlich verstärkte.[17]
Recherche und Bestände
Wer das Wiener Zeitungswesen historisch erforschen will, hat in Wien außergewöhnlich dichte Recherchewege. Die Österreichische Nationalbibliothek macht große Teile historischer Zeitungen in ANNO zugänglich und verweist zugleich auf Mikrofilm- und Druckausgaben im Lesesaal. Für die Wiener Zeitung hebt die ÖNB ausdrücklich den umfangreichen digitalen Bestand hervor und nennt die erste Ausgabe von 1703 als recherchierbaren Ausgangspunkt. Ergänzend sind Wienbibliothek, Archive und Sammlungen zentrale Orte, um Verlags- und Redaktionsgeschichte, Adressfragen, Inseratenmärkte, Zensur- und Verwaltungsakten sowie Bildbestände zu erschließen.[18]
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Quellen
- ↑ Österreichische Nationalbibliothek: ANNO – AustriaN Newspapers Online (Zeitungsportal, digitale Bestände).
- ↑ Wienbibliothek im Rathaus: Digitale Bestände und Zeitungs-/Amtsdruckschriften (Onlineangebote).
- ↑ Wikipedia: Geschichte der Zeitung (Begriffsentwicklung „Zeitung“; Übergang von Nachricht zum Medium)
- ↑ Österreichische Nationalbibliothek: ANNO – Bestände zu historischen Zeitungen (Recherchezugang).
- ↑ Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB): Blog „Schicksalsjahre der ältesten noch erscheinenden Tageszeitung der Welt“ (Erstausgabe 08.08.1703; ANNO-Bestand)
- ↑ Wikipedia: Wiener Zeitung (Gründung 1703; staatliche Übernahme 1857; Stellung im österreichischen Zeitungsmarkt)
- ↑ Deutschlandfunk Kultur: „Wiener Kaffeehaus-Kultur – Kostenlose Zeitungen als Innovation“ (Kramersches Kaffeehaus 1720; Zeitungen im Kaffeehaus)
- ↑ Die Presse: „‚Die Presse‘, ihre Geschichte und ihre Autoren“ (Gründung der Neuen Freien Presse; erste Ausgabe 01.09.1864)
- ↑ Demokratiezentrum Wien: „Arbeiter Zeitung“ (Gründung 1889; Rolle als Zentralorgan; Verbot 12.02.1934)
- ↑ Demokratiezentrum Wien: „Arbeiter Zeitung“ (Verbot 12.02.1934)
- ↑ KURIER: „Eine Tageszeitung feiert Geburtstag“ (Start „Wiener KURIER“ am 27.08.1945; Herausgabe durch US-Streitkräfte)
- ↑ Kronen Zeitung: „Damals und heute – Die Geschichte der Kronen Zeitung“ (erste Nummer der „Neuen Kronen Zeitung“ April 1959)
- ↑ Mediaprint: „Unternehmen“ (Gründung 1988 als Zusammenschluss der Verlage Kronen Zeitung und KURIER; Aufgabenfelder Anzeigen/Druck/Vertrieb; Standort Wien)
- ↑ Wikipedia: Geschichte der Zeitung (Abschnitt zu Onlineauftritten, Zugriffsraten und sinkenden Printauflagen)
- ↑ Der Standard: „Regierung besiegelt Ende der ‚Wiener Zeitung‘ als Tageszeitung“ (Beschluss 27.04.2023; Verlagerung Richtung Online)
- ↑ Wikipedia: Wiener Zeitung (letzte Printausgabe 30.06.2023; Nachfolgeprodukt digital seit Juli 2023)
- ↑ evi.gv.at: Startseite (Ersatz des gedruckten Amtsblatts seit 01.07.2023)
- ↑ Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB): Blog „Schicksalsjahre …“ (ANNO; Bestände; Recherchehinweise)